Arbeitsmarkt 4.0 und Inklusion
Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarkts bei gleichzeitig steigenden Anforderungen an den Arbeitnehmer angesichts der Arbeitswelt 4.0
Die Arbeitswelt befindet sich in einem Wandel, der durch die Digitalisierung und Automatisierung von Arbeits- und Produktionsprozessen sowie die Globalisierung und Vernetzung innerhalb der Arbeitswelt gekennzeichnet ist. Diese Entwicklung wird als Arbeitswelt 4.0 bezeichnet.[1] Einfache, monotone Routinetätigkeiten fallen der Automatisierung zum Opfer, neue Berufsgruppen mit komplexen und vielfältigen Arbeitsanforderungen entstehen.[2] Neben dezidierten Kenntnissen im Umgang mit PC und Softwareprogrammen spielen Schlüsselkompetenzen wie Flexibilität, Umstellungsfähigkeit, Problemlösekompetenz und Arbeit im Team eine immer bedeutendere Rolle.[3][4] Das „Normalarbeitsverhältnis“ weicht auf, atypische Beschäftigungsformen mit flexiblen Arbeitszeiten und Einsatzorten nehmen zu.[5] Die Verlierer dieser Veränderungsprozesse sind die gering Qualifizierten, deren Arbeitsplätze am ehesten durch Automatisierung eingespart werden können.[6] Durch die Veränderungen steigen zudem der Druck auf und die Belastung der Arbeitnehmer, wodurch es zunehmend zu stressbedingten körperlichen und psychischen Erkrankungen kommt, die zu einer Erwerbsunfähigkeit führen können.[7]
Zu dieser Zeit der Veränderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt fordert die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die im Jahr 2009 bedingungslos von Deutschland ratifiziert wurde, das Recht behinderter Menschen auf Arbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen (Artikel 27).[8] Im März 2015 beschäftigte sich der UN-BRK-Fachausschuss in Genf mit der Staatenprüfung Deutschlands und untersuchte, wie es in Deutschland um die Umsetzung der UN-BRK steht. Im April 2015 veröffentlichte er seine „Abschließenden Bemerkungen“ über den Zustand der Inklusion in Deutschland. Er legte die Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarkts nahe und forderte deshalb die schrittweise Abschaffung der Werkstätten.
Unter der Beachtung der beschriebenen Veränderungen des ersten Arbeitsmarkts liegt die Fragestellung nahe, wie die Integration und Inklusion von behinderten Menschen (insbesondere von Menschen mit einer geistigen, psychischen oder Mehrfachbehinderung) in einen sich stetig entwickelnden Arbeitsmarkt, auf dem viele Menschen ohne Behinderung angesichts der komplexen und vielfältigen Anforderungen zu scheitern drohen, gestaltet werden kann. Vor allem, da diese Menschen mit Behinderungen oftmals besondere Voraussetzungen für die Gestaltung der Arbeit, des Arbeitsplatzes und der Arbeitsorganisation benötigen, damit die berufliche Teilhabe gelingen kann[9]: feste Arbeitszeiten (i.S. der Tagesstrukturierung), ange-messener, auf die behinderte Person abgestimmter Zeit- oder Leistungsdruck, geringe Anforderungen an Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, geringe Anforderungen an die Fähigkeit zur Handlungsplanung, ein geringes Maß an Verantwortung, geringe Anforderungen an Umstellungs- und Anpassungsvermögen, Kontinuität, Unterstützung von außen zur zeitlichen, örtlichen und situativen Orientierung, zur Arbeitsmotivation, zur Konfliktklärung, zur psycho-sozialen Stabilisierung und allgemein im lebenspraktischen Bereich. Darüber hinaus haben WfbM seit 1974 einen gesetzlichen klar definierten Auftrag zu erfüllen: der Vorbereitung auf eine Tätigkeit auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt.
Wie können die Forderungen der UN-BRK gesellschaftlich, politisch und ökonomisch inner-halb der Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 umgesetzt werden, ohne dass die Menschen mit Behinderungen die Leidtragenden sind oder deren individuelle Bedürfnisse auf der Strecke bleiben?
Die inklusive Gestaltung des allgemeinen Arbeitsmarkts wird nicht nur durch den Wegfall ein-facher Routinetätigkeiten und die komplexen Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 erschwert. Weitere Zugangsbarrieren in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt sind starre Organisationsstrukturen sowie die fehlenden Kenntnisse über die oben angeführten Bedürfnisse der Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung. Nach wie vor spielen auch Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen eine Rolle.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, einen inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen, in dem sogenannte Sonderstrukturen wie WfbM überflüssig geworden sind. Dies zu ermöglichen, scheint in naher Zukunft unrealistisch angesichts der ununterbrochenen Rationalisierungs- und Modernisierungswellen in den Betrieben, einhergehend mit dem hohen Arbeitslosenanteil bei den gering Qualifizierten, der Zunahme der Frühberentungen aufgrund seelischer Störungen, der Ausweitung des Niedriglohnsektors, der Zunahme von Zeitarbeit, Leiharbeit und Arbeitsnehmerüberlassung bei gleichzeitigem Abbau von Beschäftigungsmaßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes.[10] WfbM sind kein “Sonderarbeitsmarkt“, sondern ein Arbeitsmarkt, der einen Nachteilausgleich für die berufliche Teilhabe ermöglicht. Es wäre der falsche Weg, als ersten Schritt Richtung inklusivem Arbeitsmarkt die schützenden WfbM-Strukturen abzuschaffen, als würden sich plötzlich alle Menschen mit Behinderungen problemlos in die komplexe Arbeitswelt 4.0 einfügen. Die Abschaffung der WfbM würde keine Lösung des Problems darstellen, sondern die berufliche Situation von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft verschlechtern.
Deutschland muss geltendes Recht so verändern, dass Menschen mit Behinderungen, die bisher in Werkstätten beschäftigt werden, künftig mit entsprechender Unterstützung am allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können.[11] Hierfür muss die Bundesrepublik die Arbeitgeber durch attraktive Unterstützungsangebote dazu ermutigen, ein Arbeitsumfeld bereitzuhalten, das den Bedürfnissen der Menschen mit und ohne Behinderungen entspricht.[12] Es müssen Gelder bereitgestellt werden, um bspw. Arbeitsassistenten zu schulen, die den behinderten Menschen dauerhaft zur Seite stehen. Es müssen Maßnahmen geschaffen werden, die die Integration von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen. Es müssen Arbeitgeber gewonnen und qualifiziert werden, die bereit sind, den Menschen mit Behinderungen eine Beschäftigung in ihrem Betrieb zu ermöglichen. Es müssen auch Tätig-keitsfelder geschaffen werden, da es die für einige Menschen mit einer geistigen und/oder seelischen Behinderung infrage kommenden Tätigkeiten im Zuge der beruflichen und gesellschaftlichen Veränderungen kaum mehr geben wird.
Solange sich die Bedingungen für Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht ändern, kann von einem inklusiven Arbeitsmarkt i.S. der UN-BRK nicht die Rede sein.[13] Bevor diese Voraussetzungen nicht geschaffen sind, ist es sozialpolitisch unverantwortlich, die Werkstätten für behinderte Menschen “abzuschaffen“, da sie eine Chancenungleichheit für diesen noch immer benachteiligten Personenkreis zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgleichen.
Heike Woost
Geschäftsführerin
Quellverzeichnis
[1] ↑ Drebes, J. & Marschall, B. (2015).Vierte Revolution: schöne neue Arbeitswelt. RP Online. (Abruf 08.02.2016)
[2] ↑ Rößler, M. (2015). Maschine fordert Mensch heraus. Personalmagazin, 12/2015, 18-21
[3] ↑ Müller, T. (2014). Arbeitswelt 4.0. Die deutsche Industrie steht vor dem größten Umbruch der Geschichte. Focus.de (Abruf 02.02.2016)
[4] ↑ Herrmann, A. (2015). Zukunft der Arbeit. Wohin geht die Entwicklung? br.de (Abruf 08.02.2016)
[5] ↑ Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). (2015). Grünbuch – Arbeiten 4.0. Berlin: BMAS
[6] ↑ ebd
[7] ↑ Siebert, J. (2016). Arbeit digital – Chancen und Risiken. bildungsexperten.net (Abruf 08.02.2016)
[8] ↑ Deutsches Institut für Menschenrechte (2016). Inklusiver Arbeitsmarkt statt Sonderstrukturen. Warum wir über die Zukunft der Werkstätten sprechen müssen. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
[9] ↑ Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (2001) Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung. Hinweise zur Begutachtung. DRV-Schriften Band 21. Frankfurt/Main: VDR
[10] ↑ Schwendy, A. (2015) Zur Struktur und Entwicklung des Arbeitsmarkts. In J. Storck & I. Plößl. (Hrsg.), Handbuch Arbeit. Wie psychisch erkrankte Menschen in Arbeit kommen und bleiben (S. 66-72) Köln: Psychiatrie Verlag
[11] ↑ 53° Nord – Agentur und Verlag (2015) Schrittweise Abschaffung der WfbM? 53grad-nord.com (Abruf 10.02.2016)
[12] ↑ Deutsches Institut für Menschenrechte (2016). Inklusiver Arbeitsmarkt statt Sonderstrukturen. Warum wir über die Zukunft der Werkstätten sprechen müssen. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte
[13] ↑ ebd